Mit einer Lichter-Installation aus 400 Kerzen, die einen Davidstern bildete, haben am Dienstagabend in Stuttgart rund 500 Menschen der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau vor 70 Jahren gedacht. Organisator des christlich-jüdischen Events, der mit einer Gedenkfeier im Neuen Schloss begann und mit einer Kranzniederlegung am Holocaustmahnmal endete, war der deutsche Zweig der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem (ICEJ).
Die Tragödie des Versäumnisses
„Auschwitz hätt
e verhindert werden können, wenn vielen Menschen nicht weggeschaut oder nicht nur gleichgültig zugeschaut hätten“, erklärte Gottfried Bühler, erster Vorsitzender der ICEJ-Deutschland im Weißen Saal des Neuen Schlosses. „Es ist die Tragödie des Versäumnisses. Ich möchte uns heute auffordern und ermutigen – gerade in dem für Deutschland besonderen Jahr 2015 - 70 Jahre nach Kriegsende – dass wir uns als Christen unserer jüdischen Wurzeln wieder neu bewusst werden, das jüdische Volk segnen und um Zions Willen nicht schweigen.“
Zweifacher Zweck des Gedenkens
Der Justizminister
Baden-Württembergs, Rainer Stickelberger, der in Vertretung von Ministerpräsident Kretschmann gekommen war, betonte den zweifachen Zweck des Gedenken und Erinnerns. „Es ist eine gemeinsame Verneigung vor den Opfern und gleichzeitig eine Erinnerung an unsere gegenwärtige Verantwortung“, sagte Stickelberger. Es gehe darum, dem Hass auf Minderheiten heute entgegen zu treten. „Wir dürfen nicht wegschauen, wenn in Paris Juden in einem Supermarkt ermordet werden, nur weil sie Juden sind“, sagte er. Auch dass Juden wieder Europa aus Angst vor antisemitischen Übergriffen verließen, dürfe in Deutschland niemandem egal sein.
„Diese Landesregierung wird eine solche Verdrängung nicht zulassen“, gelobte Stickelberger.
Einsamkeit und Hoffnung

Das Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, Michael Kashi, berichtete in seinem Grußwort, wie er lange nicht verstanden hätte, warum die Überlebenden bei ihrer Befreiung vor 70 Jahren nicht fröhlicher wirkten und über ihre Gefühle Jahre lang nicht sprechen konnten. „Als der Krieg plötzlich vorbei war, wurde ihnen bewusst, dass sie ganz allein auf der Welt waren. Sie hatten ihre Eltern, Großeltern und Kinder verloren“, sagte Kashi. Viele hätten ihre Angehörigen in den Lagern eine gewisse Zeit tragen und stützen können, doch als ihre Kräfte versagten, wurden diese Familienmitglieder ermordet. Quälende Fragen und Schuldgefühle blieben. Bei aller Sorge um die Sicherheit von Juden in Europa zeigte er sich dennoch zuversichtlich.
„Ich habe Hoffnung, so lange es Menschen wie Sie gibt, die sich erinnern und gegen Judenhass aufstehen“, sagte er ans Publikum gewandt.
Trauma und die Bitte um Vergebung

Der Landesrabbiner von Württemberg, Netanel Wurmser, berichtete aus seiner seelsorgerlichen Praxis sehr persönlich und eindrucksvoll, wie die Schrecken und Traumata der Gaskammern auch Jahrzehnte nach dem Holocaust noch in den folgenden Generationen nachwirkten. Das Gespräch mit einer Ratsuchenden, die immer wieder von der Angst und dem Grauen in den Gaskammern träumte, als wäre sie dabei gewesen, habe ihn sehr bewegt. „Ich kann nicht begreifen, welches Gehirn sich so etwas ausdachte“, sagte er mit Blick auf die menschenverachtende Tötungsmaschinerie der Nazis. Dass laut einer Meinungsumfrage 35 Prozent der Deutschen die Nazipolitik mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gleichsetze, finde er bedenklich.
Als Vertreter der jungen Generation sprach der 16jährige Musiker und Pastorensohn David Meussling über seine Begegnungen mit Holocaustüberlebenden in Israel. „Ich konnte es nie verstehen, wie ein Volk so erblinden konnte, dass es bereit war, einen Völkermord zu begehen", sagte er. „Mein Vater erzählte mir dann, dass mein Urgroßvater als Nazi Juden tötete, was mich schockiert hat... Ich bitte stellvertretend für viele im Vergebung", wandte sich Meussling an die jüdischen Ehrengäste.
Menschenwürde und Frieden
Der Generalsekretär der Evangelischen Allianz Hartmut Steeb betonte, dass aufgrund der schrecklichen Erfahrungen der Schoah die Väter des Grundgesetzes ganz bewusst als ersten Artikel „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in das Grundgesetz aufgenommen hätten. Dieser Satz leite sich aus dem biblischen Prinzip her, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen sei. Dieses Grundrecht auf Menschenwürde zu schützen habe für den Staat aber auch für uns deutsche Christen angesichts unserer Vergangenheit höchste Priorität
Die Stuttgarter Sozialbürgermeisterin a.D. Gabriele Müller-Trimbusch, die in Vertretung des Oberbürgermeisters Fritz Kuhn gekommen war, verlieh ihrer Sorge über die Gewaltnachrichten aus Europa Ausdruck und betonte gleichzeitig das friedliche und gelungene Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen und Religionsgemeinschaften in Stuttgart. „Es ist das erste Mal, und ich hoffe nicht das letzte Mal, dass der Gedenktag in einem größeren Rahmen stattfindet", erklärte sie. "Das ist in diesen Zeiten ein besonderes Zeichen."
Einsatz gegen Antisemitismus
Der Leiter der christlichen Pfadfinder „Royal Rangers“ Martin Seiler versprach, sich gerade im Rahmen der Pfadfinderarbeit unter jungen Menschen gezielt gegen Antisemitismus einzusetzen.
Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkfeier im Weißen Saal vom Pianisten Michael Schlierf, dem Schülerorchester des St. Agens Gymnasiums Stuttgart und David Meussling, die israelische Melodien, Klezmer und die Filmmusik von Schindlers Liste zum Besten gaben.
Dank aus Israel
Bei der anschließenden Lichterinstallation und Kranzniederlegung am Holocaustmahnmal sagte der israelische Knessetabgeordnete und frühere israelische Innenminister Meir Sheetrit, der vom israelischen Generalkonsul Dr. Dan Shaham übersetzt wurde: „Danke, dass Sie sich erinnern und nicht vergessen, diesen Tag der Geschichte, unserer Geschichte zu begehen.“ Er betonte, dass Deutschland Verantwortung für seine Geschichte während der Kriegszeit übernommen habe. „Aus dieser Verantwortung heraus hilft Deutschland Israel in vielen Bereichen. Wir schätzen das…Danke für Ihre Empathie und Ihr Verständnis in diesen schwierigen Zeiten.“ Er verlieh seinem Schmerz darüber Ausdruck, dass Israel immer noch nicht in einer Zeit des Friedens mit seinen Nachbarn angekommen sei.
Deutschland und Israel seien jedoch das beste Beispiel dafür, gerade angesichts des 50jährigen Bestehens der diplomatischen Beziehungen beider Länder, dass man Seite an Seite und erfolgreich für eine bessere Welt kämpfen könne.
Gottes Liebe zu seinem Volk
Peter Wenz, leitender Pastor des GOSPEL FORUM in Stuttgart, versicherte den Teilnehmern am Holocaustmahnmal, dass Gott seinem jüdischen Volk in tiefer Liebe, Mitgefühl und Erbarmen zugewandt sei. Er sei sich ganz sicher, dass jetzt die Zeit gekommen sei, in der Gott die Gebete vieler Juden und Christen erhören würde und seine Liebe, Gegenwart und Kraft ganz neu ausgießen wolle. Die Veranstaltung endete mit einem gesungenen hebräischen Gebet, "El Maleh Rachamim" (G’tt voller Erbarmen) für die Opfer der Schoah durch den Kantor der Stuttgarter Synagoge Arie Mozes und dem gemeinsamen Singen der Hatikwa, der israelischen Nationalhymne.