von Ester Heinzmann
Die Annahme des Teilungsplans durch die UN-Vollversammlung am 29. November 1947 gilt als wichtiger Meilenstein für die Gründung des modernen Staats Israel. Doch diese Abstimmung in New York löste im rund 10.000 Kilometer entfernten Nahen Osten eine gewaltige Flüchtlingswelle aus, die bis heute kaum Beachtung gefunden hat. In den Jahren nach 1947-1979 flohen rund 850.000 Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran oder wurden von dort vertrieben. (Foto: GPO/Fritz Cohen, Marokkanische Neueinwanderer treffen im Hafen von Haifa ein (Ausschnitt), 1954)
Staatlich orchestrierte Proteste und Pogrome
In den 1940er Jahren herrschte in den arabischen Ländern eine antijüdische Stimmung. Vielerorts kam es zu antijüdischen Massenprotesten, die rasch in Gewalt umschlugen. Der Zorn der aufgehetzten Bevölkerung entlud sich an jüdischen Menschen, Wohnhäusern und Geschäften.
In der irakischen Hauptstadt Bagdad, deren Bevölkerung zu knapp 30% jüdisch war, wurden 1941 während der NS-inspirierten Farhud-Pogrome 179 Juden ermordet, rund 2.000 verletzt, verstümmelt, vergewaltigt. Im libyschen Tripoli fielen 1945 etwa 140 Juden, darunter 36 Kinder, einem drei Tage währenden Massaker zum Opfer. Im syrischen Aleppo wurden 1947 rund 70 Juden ermordet, hunderte verletzt.
Juden in Lebensgefahr
Angesichts des UN-Teilungsplans und schließlich der Staatsgründung Israels wurde die Lage der Juden immer bedrohlicher. Am 16. Mai 1948, zwei Tage nach Israels Unabhängigkeitserklärung, titelte die New York Times „Jews in grave danger in all Moslem lands“ (Juden in großer Gefahr in allen muslimischen Ländern).
Der Zionismus und die Gründung des modernen jüdischen Staates waren jedoch nicht die Ursache dieser judenfeindlichen Atmosphäre. Pogrome gegen Juden in den islamischen Ländern reichten zurück ins Mittelalter, wie 1033 und 1465 im marokkanischen Fes oder 1066 im muslimisch beherrschten Granada (Spanien). Jahrhundertealte antisemitische Ressentiments, die sich auch in der Rolle der Juden als sog. „Schutzbefohlene“ (Dhimmis) widerspiegelte, die trotz ihres Beitrags zum Wohlstand des Landes als Bürger „zweiter Klasse“ regelmäßig Diskriminierung und Repressalien ausgesetzt waren, bildeten den Nährboden für die staatlich orchestrierte antisemitische Gewalt. Juden, auch wenn sie persönlich dem Zionismus ablehnend gegenüberstanden, wurden als Spione des neuen Erzfeindes diffamiert und waren eine leichte Zielscheibe.
Die vergessenen jüdischen Flüchtlinge
Fast überall überschnitt sich die Flucht der Juden mit konkreten geopolitischen Ereignissen. Aus Marokko, dem Irak und dem Jemen folgte sie fast direkt auf die Staatsgründung Israels. Etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Ägyptens floh nach 1948, die zweite Hälfte infolge des Suez-Kriegs 1956. Die Juden Algeriens flohen nach dem Ende der Kolonialherrschaft, mehrheitlich nach Frankreich, und die meisten der bis dahin noch im Iran verbliebenen Juden emigrierte infolge der islamischen Revolution 1979.
Fast überall wurden die Juden gezwungen, ihren gesamten Besitz zurückzulassen. Schätzungen der „World Organisation of Jews from Arab Countries“ aus dem Jahr 2007 zufolge beläuft dieser sich heute auf rund 300 Milliarden Euro, einschließlich Grundbesitz von mehr als 100.000 Quadratkilometern – einer Fläche fünfmal so groß wie das heutige Israel. Marokko und der Irak bereicherten sich nicht nur am zurückgelassenen Besitz, die Machthaber ließen sich die Ausreise der Juden teuer bezahlen.
Legendäre Rettungsaktionen
Angesichts der akuten Bedrohung der jüdischen Bevölkerung aber auch aufgrund verhängter Auswanderungsverbote, trat der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad in Aktion. 1949-1950 wurde im Zuge der „Operation Fliegender Teppich“ fast die gesamte jüdische Gemeinde des Jemens, rund 49.000 Personen, mit rund 380 Flügen nach Israel gebracht.
Tausende irakische Juden wurden zunächst über den Iran nach Israel geschmuggelt, bis das irakische Regime 1950 die Ausreise (mit zeitgleicher Ausbürgerung) genehmigte. Die „Operation Esra und Nehemia“, mit der rund 120.000 Juden innerhalb eines Jahres über Zypern nach Israel ausgeflogen wurden, beendete das babylonische Exil des jüdischen Volkes, das 597 v. Chr. zur Zeit Nebukadnezars begonnen hatte.
Aus Marokko, wo mit rund 265.000 Personen die größte jüdische Gemeinde der arabischen Welt lebte, wanderten zwischen 1948-1961 rund 120.000 Juden nach Israel ein. 1961-1963 evakuierte der Mossad mehr als 97.000 weitere marokkanische Juden im Zuge der „Operation Jachin“.
Flüchtlinge im jungen jüdischen Staat
Der junge jüdische Staat, der sich noch im Aufbau befand und hunderttausende Überlebende des Holocaust aus Europa aufnahm, musste in kürzester Zeit nun auch den Zustrom mittelloser, aber kinderreicher Flüchtlingsfamilien aus den arabischen Ländern stemmen. (Foto: GPO/Hans Pin, Jemenitische Flüchtlinge in einem Auffanglager nahe Ein Shemer (Ausschnitt), 1950)
Anfang der 1950er Jahre lebten rund 250.000 Neueinwanderer (ca. 12,5% der damaligen israelischen Bevölkerung) in Zelten, Holz- oder Wellblechhütten. Die meisten von ihnen stammten aus den arabischen Ländern. In diesen überfüllten Ma’abrot, Auffanglagern, führten prekäre sanitäre Bedingungen und Nahrungsmittelknappheit zu Krankheiten und einer hohen Kindersterblichkeitsrate. Eine hohe Arbeitslosigkeit verschlimmerte das Elend. Die Flüchtlinge, von denen viele bis zu ihrer Vertreibung ein komfortables Leben geführt hatten, harrten nun in Wind und Wetter aus, fühlten sich hilflos, frustriert und diskriminiert. Bis heute sind die Ma’abrot ein wunder Punkt und ein kontroverses Thema in der israelischen Gesellschaft.
Integration der Geflüchteten
Über 600.000 der rund 850.000 Flüchtlinge ließen sich im jüdischen Staat nieder, rund 200.000 in Frankreich. Nordafrikanische und orientalische Juden, Sephardim bzw. Misrachim genannt, machen heute rund 44,9 % der jüdischen Bevölkerung Israels aus. In Frankreich, wo die größte jüdische Gemeinde Europas zu finden ist, sind etwa 50% der Juden nordafrikanischer Herkunft.
Bekannte israelische Misrachim bzw. Sephardim sind z.B. der Vorsitzende der ultraorthodoxen Schas-Partei Arye Deri (Marokko), der Medienunternehmer Haim Saban (Ägypten) oder auch die Sportgymnastin und Olympiasiegerin Linoy Ashram (Jemen/Griechenland). Aller Erfolgsgeschichten zum Trotz herrscht zwischen israelischen Misrachim und Aschkenasim (Juden mit europäischen Wurzeln) bis heute eine große soziale Ungleichheit. Genaue Daten gibt es kaum, v.a. weil in statistischen Erfassungen meist nicht zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppen unterschieden wird.
Eine Studie der Universität Tel Aviv von 2019 ergab, dass unter gebürtigen Israelis im Alter von 26-42 Jahren 63,9% der Aschkenasim, jedoch nur 30,5% der Misrachim mindestens einen Bachelor-Abschluss hatten. Ebenso ist eine Einkommensungleichheit zu verzeichnen, die u.a. auf der Ungleichheit im Bildungsbereich gründet. Und obwohl Misrachim den größten Teil der jüdischen Bevölkerung ausmachen, sind sie in der israelischen Politik unterrepräsentiert. Die Nichtregierungsorganisation Hashomrim stellte 2021 fest, dass in den vorangegangenen 20 Jahren doppelt so viele Aschkenasim Ministerämter bekleidet hatten als Misrachim.
Gedenken an die Vertreibung
Mit der Vertreibung aus den Ländern des Nahen Ostens endete auch die Jahrtausende alte Geschichte jüdischen Lebens in der Region. Heute gibt es Schätzungen zufolge keinen einzigen Juden mehr in Algerien, Libyen und im Irak. Im Jemen befinden sich zwischen einem und fünfzig Juden, in Ägypten fünf. Eine kleine jüdische Minderheit lebt heute noch im Iran (ca. 8.000), in Marokko (ca. 2.000) und in Tunesien (ca. 1.000).
2014 ernannte Israel den 30. November, der Tag nach dem schicksalsreichen 29. November 1947, zum Gedenktag zur Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern und dem Iran.
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