

Von:
Dr. Jürgen Bühler, ICEJ-Präsident
In seiner Trauerrede für Billy Graham machte Franklin Graham 2018 eine Aussage über seinen Vater, die mich sehr berührt hat. Er sprach von der tiefen Liebe und dem Respekt seines Vaters für das Wort Gottes. „Die Bibel war seine einzige Autorität“, sagte Franklin und erinnerte sich, dass sein Vater während seiner Predigten viele Male seine Bibel hochhielt und ausrief: „Die Bibel sagt …“
Die Bedeutung der Bibel
Ich war sehr besorgt, als ich das Buch „Irresistible” (Unwiderstehlich) von Andy Stanley, einem führenden Prediger mit signifikantem Einfluss in der heutigen evangelikalen Welt, las. Stanley rät Predigern, Sätze wie „die Bibel sagt“ oder „die Bibel lehrt“ wegzulassen. Er behauptet, dass damit nichts zu gewinnen und viel zu verlieren sei. Zudem empfiehlt Stanley, das Alte Testament mit großer Zurückhaltung zu lesen, da es für die heutige Kirche keine dogmatische Bedeutung habe. Es repräsentiere einen Gott, der dem modernen Leser „unzivilisiert erscheint“.
Dies ist ein wachsendes Phänomen in der heutigen Kirche. Manche mögen weniger radikale Ansichten haben, doch es gibt eine wachsende Bewegung, die sich bewusst vom Wort Gottes und vom Alten Testament entfernt.
Foto: Wikipedia, Torah-Rolle, Symbolbild
Bibel-Analphabetismus
Wenn ich weltweit in Gemeinden spreche, frage ich oft: „Wer hat mindestens einmal die gesamte Bibel gelesen, vom 1. Buch Mose bis zur Offenbarung?“ Die Antwort ist ernüchternd. Meistens heben nur ein paar Leute ihre Hand, manchmal sogar niemand. Die höchsten Prozentsätze des Bibel-Analphabetismus finde ich in westlichen Gemeinden. Die Ergebnisse fallen ein bisschen besser aus, wenn ich frage, wer das gesamte Neue Testament gelesen hat. Doch die Bibel - besonders das Alte Testament– scheint häufig ignoriert zu werden und für viele Gläubige undurchschaubar wie eine Blackbox zu sein. Ein Pastor sagte, ich zitierte zu viele Bibelstellen. Eine, maximal zwei seien ausreichend, sonst wären die Zuhörer überfordert. Ein enger Freund sagte, in den letzten Jahren er habe in seiner Gemeinde keine einzige Predigt über einen alttestamentarischen Text gehört.
Dieses Phänomen reicht bis zur frühchristlichen Kirche zurück. Marcion, um 140 n. Chr. ein einflussreicher Lehrer der Kirche in Rom, lehnte die Schriften des Alten Testaments und sogar einige neutestamentliche Bücher als zu jüdisch ab. Sie würden den liebenden Gott, den Jesus offenbart hat, falsch darstellen. Die Irrlehre Marcions hatte Jahrhunderte lang Einfluss auf die Kirche.
Tanach – das Alte Testament
Die frühchristliche Kirche hatte noch kein Neues Testament, das zu ihrer Zeit erst geschrieben und Jahrzehnte später kanonisiert wurde. Wenn neutestamentliche Schreiber auf die „Schrift“ verweisen, beziehen sie sich eindeutig auf das Alte Testament.
Außerdem gebrauchte die frühe Kirche nie den Begriff „Altes Testament“. Ihre Vertreter bezeichneten die hebräischen Schriften als Tanach. Das Wort ist ein Akronym, das aus drei hebräischen Buchstaben [T-N-K] gebildet wird. Es sind die drei Anfangsbuchstaben der verschiedenen Bestandteile des Alten Testaments: T steht für Thora oder das Gesetz, das die fünf Bücher Mose umfasst und auch als Pentateuch bezeichnet wird. Das N steht für alle Propheten (Nevi´im auf Hebräisch), des Alten Testaments von Jesaja bis Maleachi (außer Daniel, der zu den Schriften gezählt wird). Das K steht für Kotvim, die Schriften. Diese enthalten alle übrigen Bücher von Josua bis Samuel, Hiob, die Psalmen und das Hohelied.
Die neutestamentlichen Autoren bezeichneten das Alte Testament oft als „das Gesetz und die Propheten“ (z.B. Matthäus 5,17; 11,13; Joh. 1,45; Apg. 13,15) oder „das Gesetz, die Propheten und die Psalmen“ (Lukas 24,44). Nur einmal wird es in der Bibel als „altes Testament“ bezeichnet – in 2. Kor. 3,14. Der griechische Text spricht hier wörtlich vom „alten Bund“, doch Jerome verwandte im 5. Jahrhundert in seiner lateinischen Übersetzung des Abschnitts den Ausdruck „altes Testament“, der sich gehalten hat.
„Die Bibel sagt“
Die Bibel bezeichnet sich selbst nie als „die Bibel“, sondern als „die Schriften“. Mehr als 20 Mal bekräftigte Jesus seine Lehren indem er verkündete: „Es steht geschrieben” oder „die Schrift sagt” oder „Habt ihr nicht gelesen?”. Tatsächlich ist die Frage „Habt ihr nicht gelesen?“, die Jesus oft den Schriftgelehrten und Lehrern stellte, heute relevanter als je zuvor (siehe u.a. Matthäus 12,3; 19,4). Jesus ist der menschgewordene Gott. Als Schöpfer des Himmels und der Erde hätte er neue Regeln aufstellen können, um seine Rolle und seinen Auftrag zu definieren. Doch er erkannte stets die Schriften an und identifizierte sich selbst darüber.
Mit der Bergpredigt hat Jesus unser Herangehen an die Thora auf eine neue Stufe gehoben. Vom rein äußerlichen, buchstabengetreuen Gehorsam sollen wir zu einem Umgang mit der Thora kommen, der Herz und Sinn umformt. Jesus hielt das Gesetz nie für wertlos und plädierte nie dafür, es abzuschaffen. Vielmehr erläuterte er das Gesetz und schärfte seine Bedeutung. „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ (Matthäus 5,17ff)
„Es steht geschrieben” – mit diesen Worten überwand Jesus den Satan. Auch die Verfasser des Neuen Testaments verweisen wiederholt auf das Alte Testament, die hebräischen Schriften. Im Neuen Testament werden sie mehr als 300 Mal direkt zitiert und mehr als 1.600 Mal wird auf sie hingewiesen. Billy Grahams Gewohnheit, sich oft darauf zu beziehen, was „die Bibel sagt“, war keine sonderbare Angewohnheit eines altmodischen Predigers, sondern derselbe ehrwürdige Brauch, den auch Jesus und die Apostel pflegten. Wir tun gut daran, diese Gewohnheit auch heute beizubehalten.
Die lobenswerte Gemeinde
In der Apostelgeschichte wird die Gemeinde in Beröa/Griechenland als „lobenswert“ geehrt. Lukas bezeugt: „Diese aber waren freundlicher als die in Thessalonich; sie nahmen das Wort bereitwillig auf und forschten täglich in der Schrift, ob sich's so verhielte.“ (Apg. 17,11) Paulus muss diese Gemeinde geliebt haben. Sie waren bereit, die Predigt des Wortes Gottes sogleich anzunehmen. Zudem vergewisserten sie sich, dass die Botschaft mit der Schrift übereinstimmte.
Es ist klar: Sie haben nicht Paulus Predigten mit Petrus Briefen oder den Evangelien verglichen. Sie hatten nur den Tanach – das Gesetz, die Propheten und die Schriften. Anders gesagt: Hätten sie das, was Paulus predigte, nicht im Alten Testament gefunden, hätten sie sein Evangelium nicht akzeptiert. Paulus erachtete die Beröer deshalb nicht als besonders kritisch oder rückwärtsgewandt. Im Gegenteil, er nannte sie unvoreingenommener und lobenswerter als andere. Die Apostel predigten das Evangelium nur aus dem Alten Testament (Apg. 17,2-3; 18,28). Heute wären viele Christen überfordert, die gute Nachricht von Jesus nur anhand des Alten Testaments weiterzugeben.
Jesus im Alten Testament
Jesus ist nicht gekommen, um etwas völlig Neues zu beginnen, sondern um zu bestätigen und zu erfüllen, was geschrieben steht. Dreieinhalb Jahre lang beobachtete der Apostel Johannes wie Jesus predigte, Männern und Frauen begegnete, sich um Kinder, Kranke und Ausgestoßene kümmerte. Dann beschreibt Johannes seine Erfahrung mit Jesus so: „Das Wort ward Fleisch.“(Joh. 1,14) Während seine Jünger die Worte Jesu hörten und seine Taten sahen war es, als würden Textstellen des Alten Testaments plötzlich rot für sie hervorgehoben. Sie sahen, wie ihre Schriften in Jesus lebendig wurden und verstanden die wahre Bedeutung von Gottes Wort. Jesus hob das Ritual der Befolgung des Gesetzes im Tanach auf eine neue Ebene: Herzen sollen umgewandelt werden. Seine kühne neue Herangehensweise an die Schriften frustrierte bisweilen sogar die Jünger (Matthäus 19,10-11). Aber Jesus versprach, dass der Heilige Geist ihre Herzen bald reinigen würde, wie es die Propheten vorhergesagt hatten (Hesekiel 36,25-27).
Jesus erklärte: „Die Schrift weist auf mich hin.” (Joh. 5,39) Daran halten Juden bis heute fest. Ein Rabbiner sagte mir: „Jürgen, den Messias findest du auf jeder Seite des Tanachs. Zum Beispiel in den ersten Versen der Bibel: `Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde … und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.´(1. Mose 1,1-2) Das war der Geist des Messias! Er war bereits da.“ Das sagt auch Johannes: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott …“ (Joh. 1,1) An zahlreichen Stellen in den hebräischen Schriften finden wir Jesus: Bei Josef, der von seinen Brüdern abgelehnt und verkauft zum Retter Israels wurde. Im Leben von Mose, David und vielen anderen Personen und Geschichten, die auf den zukünftigen Erlöser hindeuten.
Lukas berichtet, dass Jesus nach seiner Auferstehung zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus begegnete: „Er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften von ihm gesagt war.“(Lukas 24,27) Ebenso macht es Paulus in Rom: „Da erklärte und bezeugte er ihnen das Reich Gottes und predigte ihnen von Jesus aus dem Gesetz des Mose und aus den Propheten vom frühen Morgen bis zum Abend.“(Apg. 28,23)
Quelle der Lehre
Die Urkirche betrachtete den Tanach als Hauptquelle ihrer Doktrinen und Lehren. Paulus lehrt seinem geistlichen Sohn Timotheus: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit…“(2. Tim. 3,16) Tatsächlich gingen die wichtigsten dogmatischen Standpunkte der Kirche aus dem Alten Testament hervor. Die Göttlichkeit Jesu (Jesaja 9,5; Micha 5,2), sein Sühneopfer durch Leiden und Tod (Jesaja 53) und seine Auferstehung (Psalm 16,10), sein Amt als Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks (1. Mose 14,18; Psalm 110,4), Errettung durch Glauben (1. Mose 15,6; Habakuk 2,4), die Ausgießung des Heiligen Geistes (Joel 3,1; Hesekiel 36&37), die Aufnahme der Nichtjuden unter die Erlösten (1. Mose 12,3; Jesaja 11,10) usw. – all das kann im Tanach gefunden werden. Vom Anfang bis zum Ende haben die hebräischen Schriften die Theologie der Urkirche geprägt und inspiriert.
Alle Schrift ist durch göttliche Inspiration gegeben - und sie beginnt nicht mit dem Matthäusevangelium, sondern mit dem 1. Buch Mose. In vielerlei Hinsicht kann das Neue Testament nur durch das Alte Testament verstanden werden. Es ist z.B. schwer, die sühnende Kraft des Blutes Jesu ganz zu erfassen, ohne das Opfersystem der Stiftshütte und des Tempels zu verstehen. Von Noah und Abraham bis Nehemia und Esra dienen uns die Glaubenshelden bis heute als Beispiel dafür, wie wir Gott vertrauen können. Ebenso können die Bücher des Neuen Testaments und das Wirken des Heiligen Geistes die alten Schriften erhellen (2. Kor. 3,14ff).
Betend die Bibel lesen
All das soll uns natürlich in keiner Weise veranlassen, das Neue Testament aufzugeben oder abzuwerten. Im Gegenteil, die hebräischen Schriften zu kennen und zu studieren hilft uns, Jesus und das Neue Testament besser zu verstehen. Das sollte uns ermutigen, das ganze Wort Gottes zu lesen. Tatsächlich verdient der gesamte Kanon der Heiligen Schriften, durch die Gott, unser Schöpfer, zur Menschheit spricht, unseren vollsten Respekt.
Bitten Sie den Heiligen Geist, Ihr Herz und Ihren Sinn zu erleuchten während Sie Ihre Bibel lesen. Bitten Sie Jesus, Ihnen die Wunder seines Wortes zu zeigen. Ich ermutige Sie, dass Sie sich alle Bücher der Bibel zu eigen machen und studieren. Beschließen Sie doch noch heute, die gesamte Bibel durchzulesen. Ich versichere Ihnen: das wird Ihr Leben verändern. Gott verspricht uns: „So soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.“(Jesaja 55,11)
Ich bete, dass Sie diese Erfahrung machen, während Sie Gottes Wort studieren und den vollen Ratschluss Gottes in sich aufnehmen.
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