

Von:
Horst Krüger, Autor und Musiker
Nichtjüdische Christen lieben den Spruch: „Wir sind nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade.“ Soll heißen: „Das Alte Testament brauchen wir nicht; als mündige Christen sind wir freie Menschen.“ Offenbar kennt man nicht den ganzen Text in Römer 6,14: Die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade.Was nun, sollen wir sündigen, weil wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind? Das sei ferne!
Foto: Pixabay, Jüdischer Gebetsschal mit Quasten, Symbolbild
Falsches Denkmuster
Seit der Trennung von den Juden und dem Vorwurf gegen sie, Gottesmörder zu sein, ist Christen die Materie von Gesetz und Gnade, von jüdischer Gesetzlichkeit und christlicher Freiheit nicht klar. Aufgrund der Irrlehre von Marcion (ca. 150 n.Chr. in Rom) entwickelte sich das Denkmuster: Das Alte Testament ist eine Religion des Gesetzes, sklavischen Gehorsams und eines zornigen Gottes; Neues Testament und Christentum dagegen verkünden Freiheit, Gnade und Liebe, Gerechtigkeit durch Glauben. Doch die rabbinische Literatur klagt nicht über die Tora oder einen zornigen Gott. Israel liebt die Tora – aus Dankbarkeit für Gottes Bund und die Erlösung!
Wahre Bedeutung
Wie sehen Jesus und Paulus das Gesetz? Ihre Worte mit orientalisch-semitischem Hintergrund sind für uns im Westen schwer verständlich. Ein Blick auf ihre Kultur und Sprache hilft. Für Verordnung, Gebot usw. kennt die hebräische Bibel die Begriffe: mischpat, choq und mizwa. Tora, Gesetz, jedoch bedeutet in der biblischen Sprache die Richtung zeigen, lehren, den Weg weisen, Führung fürs Leben. Gott lehrt und führt sein Volk durchs Leben. Die Tora zeigt wertvolle Paradigmen auf. Sie ist Maßstab! Wer Tora lebt, hat Leben in Shalom, in Harmonie, Frieden und Wohlergehen. Ebenso wie im NT wird Sünde als gegen Gott gerichtetes Prinzip bestraft, aber selbst dem schlimmsten Sünder wird Vergebung angeboten. Wer die Maßstäbe missachtet, schadet sich selbst; das nennt Paulus Fluch (Strafe) des Gesetzes. Wer sich die Mühe macht und das Gesetz erforscht, findet von Adam über die Erzväter bis zum Volk Israel wichtige Grundsätze. Da lernt man fürs Leben!
Von R. Jehoschua ben Levi findet sich in den Pirke Avot der antike Spruch: „Die Tafeln, Gotteswerk sind sie, und die Schrift, Gotteswerk ist sie, eingegraben in die Tafeln. Lies aber nicht ‚eingegraben’, charut, sondern ‚frei’, cherut, denn es gibt keinen freien Menschen außer demjenigen, der sich mit der Tora beschäftigt ...“ Das klingt nach Jakobus (Jakobus 1,25; 2,12): Wer in das vollkommene Gesetz der Freiheit hineingeschaut hat … Hintergrund ist das einst bekannte Wortspiel, wobei nur der Vokal verändert gelesen wird.
Die Übersetzer der hebräischen Bibel, Tanach (Tora, Propheten, Schriften), ins Griechische, Septuaginta, setzten im 3. Jh. v.Chr. für Tora das griechische Wort nómos, Gesetz, ein. Rabbiner haben das immer bedauert, da so der Charakter von Tora, Lehre, verlorenging. Weil Paulus das jüdische Religionsgesetz, die Halacha bzw. die mündliche Toranómos nennt, können wir nur schwer zwischen beiden Begriffen unterscheiden.
Wann kam die Tora?
Ganz klar: Nach der Rettung aus Ägypten, zu Pfingsten am Sinai als Lehre fürs Leben in einer freien Volksgemeinschaft! Tora rettet nicht, sie weist nach der Rettung den Weg. Ein Beispiel: Ein entlaufener Esel, der dem Besitzer vom feindlichen Nachbarn zurückgegeben wird, kann Friedensstifter sein, wenn beide wieder miteinander reden (2. Mose 23,4). Gute Werke retten nicht, nur die Gnade. Aber Jesus und Paulus fordern gute Werke als Frucht nach der Erlösung! Gott schloss seinen sogenannten Alten Bund nur mit Israel. Aber schon damals forderte er Israel auf (2. Mose 19,5-6), als sein Schatz ein Priestervolk für alle Völker zu sein. Bereits seit dem Sinai gilt Erlösung allen Völkern! Rituelle Vorschriften für Tempeldienst, Beschneidung, Sabbat und Speisegebote betreffen nur Israel. Jeremia 31,31-34 prophezeit den neuen Bund mit einem neuen Herzen. Nach Pfingsten in Jerusalem unterstützte die Gemeinde die Armen, sodass keiner Not litt. Das ist angewandte, ins Herz gelegte Tora.
Neue Regeln
Nach der babylonischen Gefangenschaft entstand eine neue Frömmigkeit. Die Weisen nach Esra passten die Worte der Tora der veränderten Zeit an und schufen den Zaun um das Gesetz, die mündliche Tora. Das sollte einen Verstoß gegen die Tora mit einer erneuten Zerstörung des Tempels verhindern. Gott hatte gesagt: Arbeite nicht am Sabbat! Die Frage war: Was ist Arbeit? So entstand das Verbot von 39 Tätigkeiten. Ähnlich war es mit vielen anderen der 613 Tora-Gebote. Jesus überging die Lehren der Sadduzäer und Essener, stimmte aber weitgehend mit den Pharisäern überein. Er empfahl sogar ihre Lehre, kritisierte jedoch ihre Heuchelei. Kleinliche Gebote, sogenannte Gesetzlichkeiten, lehnte er ab. Jesus lehrte Barmherzigkeit, Liebe, Glaube, Gerechtigkeit. Mit diesen Worten sagte er dasselbe wie die Pharisäer: Der Sohn des Menschen ist Herr über den Sabbat; wer eine Frau lustvoll ansieht, hat mit ihr in seinem Herzen die Ehe gebrochen; wer Böses in seinem Herzen gegen seinen Nächsten trägt, begeht einen Mord. Warum wohl berief er Saulus, einen Pharisäer, zum Apostel?
Keine neue Tora
Jesus betonte die ewige Gültigkeit des Gesetzes am Beispiel von Jota und Häkchen. Er bekräftigte, dass er die Tora richtig lehrte, indem er sie erfüllte, und dass er sie nicht auflöste, d. h. nicht falsch lehrte. Diese rabbinischen Begriffe verstehen wir heute nur, wenn wir seine Sprache lernen (Gerechtigkeit verstand man zumeist als Erlösung, Rettung). Die Bergpredigt verstärkt die Tora und deutet bekannte Lehren mit neuartiger Vollmacht. Deswegen war Jesus ständig von Pharisäern umgeben. Der bedeutende jüdische Jesusforscher Prof. Dr. David Flusser aus Jerusalem war davon begeistert, wie er mir sagte. Jim Gerrish, ebenfalls Jerusalem, fand 2004 im NT mehr als 1000 Gebote! Im Neuen Bund wird keine neue Tora gegeben. Vielmehr wird durch das Erlösungswerk von Jesus und durch den Heiligen Geist die Tora mit ihren sittlich-moralischen Forderungen in die erneuerten und beschnittenen Herzen der Menschen gelegt. Sie wird (nach Jesus und Paulus) erfüllt durch die Aufforderung: Liebe Gott, liebe deinen Nächsten. Wie das geht, zeigt das Gesetz.
In Johannes 1,17 heißt es: Die Tora wurde durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus geworden. Das Wörtchen aber steht nicht im originalen Text. Das Gesetz ist ein Geschenk der Gnade Gottes. Für Paulus ist es heilig, gerecht und gut (Römer 7,12). Der Ausdruck Saum seines Gewandes (Griechisch kraspedon) in der Lutherbibel kann auch Quaste bedeuten. Sie erinnert daran, das ganze Gesetz zu halten.
Zehn Worte
Als ich vor einigen Jahren die Zehn Gebote (in der Bibel Zehn Worte) studierte, erkannte ich: Der Gottesbeweis liegt im universellen Sittengesetz mit seinen moralischen, ethischen und altruistischen Prinzipien. Der US-Wissenschaftler Francis Collins kommt in seinem Buch „Gott und die Gene“ zur selben Erkenntnis. Er war Atheist, fand aber zum Glauben, als er das Sittengesetz als universell, ewiggültig und von Gott kommend erkannte. Als Collins im Jahr 2000 seine Forschung am menschlichen Genom bekanntgab, sprach er vom Bauplan Gottes für den Menschen. Ein moderner Atheist bekehrt sich durch das Gesetz!
Lesen wir einmal die Zehn Gebote ganz sinngemäß, denn Gott sagt nicht: du sollst, du sollst nicht …, sondern du wirst … Hier meine Kurzfassung: Ich bin dein Gott, der dich erlöst hat, du wirst neben mir keine Götzen anbeten, ihnen keine Statuen errichten; wirst meinen Namen nicht missbrauchen und den Ruhetag, den Sabbat, feiern. Du wirst deinen Eltern gegenüber ehrfürchtig sein, keinen Menschen morden und nicht die Ehe brechen. Du wirst keine Lügen über deinen Mitmenschen aufbringen noch das haben wollen, was er hat, angefangen bei der Frau, über die Dienerschaft bis hin zu seinen Haustieren. Wenn du das beachtest, weißt du, dass ich dein Gott bin, der dich in die Freiheit gesetzt hat! Das ist der Maßstab, daran kannst du dich messen!
Wir sind nicht ohne Gesetz, als Ausdruck der Gnade Gottes. Er will, dass wir auf geradem Weg gehen und es bis in seine Herrlichkeit schaffen. Dafür brauchen wir das „Gesetz“: Gottes Tora, unsere Wegweisung.
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Der Jude Paulus verfasste seine Briefe an die Gemeinde in Rom auf Griechisch. In seinem Buch „Der Jude Paulus - Sein Brief an die Römer“ hilft uns Horst Krüger, Paulus besser zu verstehen, indem er fragt: Was mag der Apostel wohl auf Hebräisch gemeint haben?
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