

Von:
Horst Krüger, Autor und Musiker
„Gibt es im Alten Testament überhaupt Gnade?“ Das ist eine Frage, die bis heute hartnäckig gestellt wird. Wie ist es zu dieser Frage gekommen, die auch Theologen noch immer beschäftigt? Ihr Ursprung liegt in einer alten unseligen Geschichte, die sich um ca. 150 n. Chr. in Rom abspielte.
Foto: Pixabay, Klagemauer, Symbolbild
Ablehnung des Alten Testaments
Der reiche Reeder Marcion aus Pontus kam nach Rom und nahm in der Gemeinde schnell eine einflussreiche Position ein. Bald wirkte er auch als Lehrer. Er erklärte den Gläubigen, der Gott des Alten Testamentes (AT) sei nicht der Vater von Jesus, er sei grausam, zornig und unberechenbar. Das AT sei schädlich, in ihm gebe es keine Gnade. Marcion ließ nur das Lukasevangelium und sieben Briefe von Paulus gelten. Die Kirchenväter Irenäus und Tertullian bekämpften ihn, aber umsonst. Die Früchte dieses bösen Samens wachsen noch immer. Vor einiger Zeit hörte ich auf einer Tagung einen jungen freikirchlichen Pastor zu einem Kollegen sagen: „Letzten Sonntag habe ich das erste Mal aus dem Alten Testament gepredigt.“ Aussagen wie „Wir sind nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade; wir brauchen das Alte Testament nicht!“ sind häufig zu hören.
Gnade im Alten Testament
Falsche Lehren können sich lange halten, besonders die, dass im AT keine Gnade zu finden sei. Die Unwissenheit ist groß, vor allem auch, weil sich die Kirche schon früh vom Judentum getrennt hat. Das hebräische Wort für Gnade heißt chessed (חסד). Es kommt im AT gut 245 Mal vor, allein in den Psalmen 127 Mal. Der fromme Jude preist die Gnade Gottes, denn dieser Begriff besagt viel mehr als das, was wir gewöhnlich darunter verstehen. Das hebräische chessed umfasst das Erleben der Güte, Gnade und vor allem der unveränderlichen Liebe und Freundlichkeit Jahwes. Diese Worte finden wir an vielen Stellen im ersten Teil unserer Bibel.
Gnade, chessed, ist ein starkes Wort aus dem Vorderen Orient. Es betrifft den Bund (brit) Gottes mit seinem Volk Israel und entstammt folgender Situation: Wenn ein Fürst Gefallen an einem Vasallen oder einem schwächeren Fürsten an seiner Seite hat, bietet er ihm an: „Hier ist mein Bund mit dir. Du kannst dich auf mich verlassen.“ Grundlage des Bundes ist chessed - Liebe, Gnade, Güte - und zwar als feste, unverrückbare Größe. Einer kann dem anderen vertrauen.
„JHWH, Jahwe, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Wahrheit!“ (2. Mose 34,6)
Gottes Wesen: Gnade und Wahrheit
Neben chessed ist emet ein weiterer wichtiger Begriff, um das Wesen Gottes zu beschreiben. Emet bedeutet Wahrheit, aber auch Treue, und hat die Wurzel amn, Amen. Gott ist treu! Dieser wunderbare Doppel-Begriff Gnade und Wahrheit (chessed & emet) wird in den Psalmen zwölf Mal verwendet, ein weiteres Dutzend Mal findet er sich in weiteren Schriften des AT. In 1. Mose 24 sendet Abraham seinen Knecht nach Haran, um für Isaak um eine Frau zu werben. Als der Knecht die glückliche Lösung schon fast greifen kann, sagt er: „Gepriesen sei der HERR, der Gott meines Herrn Abraham, der seine Gnade und Treue/Wahrheit (chessed & emet) gegenüber meinem Herrn nicht hat aufhören lassen!“ (1. Mose 24,26-27) Und die Familie, die durch einen Bund mit Abraham verbunden ist, bittet er: „Wenn ihr Gnade und Treue/Wahrheit (chessed & emet) an meinem Herrn erweisen wollt, teilt es mir mit.“ (Vers 49)
In 2. Mose 34,6 hörte Mose Gottes Worte: „JHWH, Jahwe, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Wahrheit (chessed & emet).“ Diesem Ausspruch war die Sünde des Volkes Israel, das das goldene Kalb anbetete, und Moses Bitte um Vergebung direkt vorausgegangen. Gott sagt auf dem Höhepunkt der verzweifelten Lage unzweideutig: Ich stehe treu zu meinem Bund, auch wenn ihr euch versündigt habt. Ich bin gnädig und vergebe! Die Gnade als Wesensart Gottes wirkt auch für Nichtjuden Rettung. Die israelitischen Kundschafter in Jericho versprechen der Rahab für ihre Hilfe: „Wenn der HERR uns das Land gibt, dann werden wir Gnade und Treue/Wahrheit (chessed & emet) an dir erweisen.“ (Josua 2,14)
Gesetz und Gnade: kein Gegensatz
Auf dem Sinai empfing Israel das Gesetz aus Gottes Hand und durfte nach der Anbetung des goldenen Kalbes die Gnade Gottes erfahren. Kein Wunder, dass Israel den Sinai liebt - als Symbol der Liebe und der Gnade Gottes, die Gottes absolute Zuverlässigkeit zwischen ihm und uns bezeugt. Gesetz und Gnade sind keine Gegensätze. Das Gesetz, durch das Menschen eine hohe Lebensqualität als Individuen, als Familien und als Staat erleben, ist Ausdruck der Gnade Gottes. Auf dieser Grundlage ist auch Jesus gekommen, wie es in Johannes 1,14+17 heißt: „Wir sahen seine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit.“ Israel sollte wissen: Gottes Wort bürgt für Leben. Jetzt ist Jesus da, ihr könnt ihn erleben, in seine Augen schauen, seine Worte hören, seine liebevolle Hand spüren – seine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit. Gott steht noch immer fest zu seinem Bund!
Als Mose mit der Botschaft von Gnade und Wahrheit zu seinem Volk kam, strahlte sein Gesicht. Aber Mose war nur ein Mensch. Ihm war das, was Jesus ausstrahlte, nicht eigen. In 2. Mose 34,6 lesen wir auch das Wort rachamim, was barmherzig bedeutet. Es wird von dem Wort für Mutterleib hergeleitet: In diesem hebräischen Wort klingt an, was eine Mutter empfindet, wenn sie ihr gerade neugeborenes Kind zappelnd und noch blutig vor sich liegen sieht. Dasselbe empfindet Gott für uns in seiner Gnade, seiner chessed! Wenn Jesus die Menschen voller Mitleid ansah, strahlte er Gnade und Wahrheit aus.
Gottes Gnade
In Verbindung mit dem ewigen Bund zwischen Gott und Israel gewinnt der Ausdruck Gnade und Wahrheit eine überragende Bedeutung. Gott wird seinen chessed–Bund nie brechen, auch wenn Israel untreu ist! Auch wenn die Propheten selten chessed anführen, ist das göttliche Prinzip klar. Paulus erklärt das im Römerbrief, Kapitel 9-11, und schreibt auch an Timotheus: Wenn wir untreu sind, ist Gott doch treu, er kann sich selbst nicht verleugnen.“ (2. Timotheus 2,13) Gottes Gnade ist aktiv, sozial und ewigwährend. Er schenkt seine Gnade (Micha 7,20), erinnert sich an sie (Psalm 25,6), lässt sie andauern (Jeremia 31,3), sendet sie (Psalm 57,4), zeigt sie (Psalm 85,8), macht sie groß (Psalm 103,11), er kann sie auch wegnehmen (Jeremia 16,5) oder ihr befehlen (Psalm 42,9). Wir können sie durch unsere Liebe, chessed, erwidern.
Was chessed auch bedeuten kann
Zuletzt ein interessantes Detail. Prof. Shmuel Safrai erklärt die Bedeutung der Bezeichnung Worte der Gnade, mit denen Jesus‘ Worte in der Synagoge von Nazareth in vielen Bibelübersetzungen beschrieben werden: „Sie gaben ihm Zeugnis und wunderten sich über die Worte der Gnade ...“ (Lukas 4,22) Nur wenige Verse später berichtet Lukas, dass alle Synagogenbesucher Jesus voller Zorn umbringen wollten (Lukas 4,28-29). Wir sind verwirrt. Wie kann Begeisterung so schnell in Hass umschlagen? Worte der Gnade heißt im Hebräischen divrei chessed. Ihre wahre Bedeutung ist: falsche, üble Lehre. Chessed kann demnach auch etwas Negatives ausdrücken, wie in Sprüche 14,34 deutlich wird: „Gerechtigkeit erhöht eine Nation, aber Sünde ist die Schande (chessed) der Völker.“ Diesen Zusammenhang sieht der hebräische Übersetzer sofort. Aber wer einen griechischen Satz übersetzt, kann das hebräische Idiom dahinter oft nicht erkennen. Die Leute in Nazareth sind sofort wütend, weil Jesus die Jesaja-Worte auf sich bezieht und weil sie das für eine falsche Lehre halten. Für sie ist er nur der Sohn Josephs.
Zur Eingangsfrage „Gibt es Gnade im Alten Testament?“ können wir festhalten: Ja, sehr viel. Gottes chessed ist so groß, dass sogar Heiden davon profitiert haben - zum ewigen Leben.
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