
Auch die vierten Knesset-Wahlen innerhalb von zwei Jahren konnten den politischen Stillstand in Israel nicht durchbrechen. Bereits in der Wahlnacht war von einem erneuten Gang zur Wahlurne die Rede.
Foto: GPO/Haim Zach, Bennett und Netanjahu, Archivbild
Gespaltene Gesellschaft
Die im Mai 2020 gebildete „Einheitsregierung“, geführt von Benjamin Netanjahu (Likud) und Benny Gantz (Blau-Weiß), konnte sich im Streit um den Staatshaushalt wiederholt nicht einigen. Als die letzte Frist am 22. Dezember 2020 auslief, wurde die Knesset entsprechend israelischem Recht automatisch aufgelöst.
Doch auch bei den jüngsten Neuwahlen hat kein politisches Lager die absolute Mehrheit erzielt. Das Wahlergebnis spiegelt die zunehmende Spaltung der israelischen Gesellschaft entlang politischer, religiöser und ethnischer Linien wider. Genau dies macht die Regierungsbildung so schwierig. Die Differenzen scheinen schier unüberbrückbar. Zudem wollen zahlreiche Parteien ein Ende der „Ära Netanjahu“ und lehnen daher jegliche Verhandlungen mit ihm ab.
Islamist als Königsmacher?
Anfang April erhielt Netanjahu den Auftrag zur Regierungsbildung. Neben der Unterstützung der ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum sowie der Religiösen Zionisten braucht er weitere Verbündete. Durch die erneute Pattsituation haben sich zwei Politiker als „Königsmacher“ entpuppt, auf deren Unterstützung die künftige Regierung angewiesen zu sein scheint. Einer von ihnen ist Naftali Bennett von der nationalreligiösen Jamina-Partei. Doch auch mit Bennetts Beteiligung würden Netanjahu zwei Mandate zur nötigen Mehrheit von 61 Knesset-Sitzen fehlen.
Dies macht Mansour Abbas, Vorsitzender der islamistischen Ra’am-Partei, zum Zünglein an der Waage. Entgegen der üblichen Politik arabischer Parteien, die Regierungsbildung zu boykottieren, will Mansour Abbas eine Regierungsbeteiligung nicht mehr ausschließen - um die Interessen der arabischen Israelis zu vertreten. Eine Koalition mit den Religiösen Zionisten lehnt er jedoch ab. Zu dem Parteienbündnis zählt die nationalistische Partei Otzma Jehudit („Jüdische Stärke“), der Abbas vorwirft, araberfeindlich zu sein.
Minderheitsregierung oder Seitenwechlser
Möglich wäre die Bildung einer Minderheitsregierung. Dazu müsste die Ra’am-Partei bei Knesset-Abstimmungen zugunsten der Regierung stimmen oder sich enthalten. Doch die Religiösen Zionisten lehnen eine Vereinbarung mit Ra’am, deren Charta u.a. den Zionismus als „rassistisch“ bezeichnet, ab. Netanjahus weitere Optionen wären, zwei Abgeordnete der gegnerischen Parteien dazu zu bewegen, die Seiten zu wechseln oder die neugegründete konservativ-nationale Partei Tikwa Chadascha („Neue Hoffnung“) des ehemaligen Likud-Ministers Gideon Sa’ar für seine Koalition zu gewinnen. Sa’ar ist zu einer Koalition mit dem Likud bereit, aber nicht unter der Führung Netanjahus.
Sollte Netanjahu bis zum 4. Mai keine Regierung bilden können, wird ein anderer Kandidat oder gar die Knesset den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten.
Breites politisches Spektrum
Ein weiterer Kandidat wäre Jair Lapid der links-liberalen Jesch-Atid-Partei. Er genießt die Unterstützung der Mitte-Links-Parteien Blau-Weiß, Israel Beitenu, Meretz und Arbeitspartei. Auch er braucht die Unterstützung Bennetts und Abbas‘. Lapid hat Bennett bereits angeboten, per Rotation das Amt des Premierministers zu teilen. Eine Koalition der Mitte-Links-Parteien mit der nationalreligiösen Jamina-Partei, der konservativ-nationalen Tikwa Chadascha und der arabischen Ra’am-Partei würde ein breites politisches Spektrum vertreten. Dennoch ist fraglich, ob Avigdor Lieberman (Israel Beitenu) mit den Islamisten zusammenarbeiten will.
Enorme Herausforderungen
Israel braucht dringend eine stabile Regierung, denn das Land steht vor enormen Herausforderungen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat Ermittlungen wegen angeblicher Kriegsverbrechen aufgenommen. Die Spannungen mit dem Erzfeind Iran spitzen sich zu. US-Präsident Joe Biden scheint in seiner Nahostpolitik weniger Verständnis für Israels Anliegen zu haben als sein Vorgänger Donald Trump. Auch innenpolitisch gibt es Probleme. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 17% (Stand März 2021). Seit 2018 wurde kein neuer Staatshaushalt verabschiedet, Zahlungen an die verschiedenen Ressorts erfolgen Monat für Monat auf Grundlage des Haushalts von 2019. Nach dem Rücktritt von Justizminister Avi Nissenkorn im Dezember konnte die Regierung sich nicht auf einen Nachfolger einigen - somit können keine neuen Gesetze verabschiedet werden.