
Nach den Terroranschlägen von Kopenhagen Mitte Februar hat der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu die Juden Europas erneut zur Auswanderung nach Israel aufgerufen. „Juden gebührt natürlich in jedem Land Schutz“, betonte Netanjahu. „Doch wir sagen den Juden, unseren Brüdern und Schwestern: Israel ist eure Heimat. Wir bereiten uns auf eine Masseneinwanderung aus Europa vor und rufen dazu auf. Ich möchte allen europäischen Juden und allen Juden in der Welt sagen: ‚Israel ist die Heimat jedes Juden.‘“
Sowohl in der jüdischen Diaspora als auch in europäischen Regierungskreisen stieß Netanjahus Aufforderung auf scharfe Kritik. Die Kontroverse um den Alijah-Aufruf des israelischen Premierministers offenbarte, insbesondere im jüdischen Kontext, unterschiedliche Auffassungen zu der Frage, was den Zionismus und das Wesen des Staates Israel eigentlich ausmache - ganz unabhängig von biblisch begründeten Standpunkten. Während einige Israel primär als einen Zufluchtsort für Juden sehen, der nach dem Holocaust etabliert worden sei, ziehen viele Israelis es vor, den Zionismus als proaktive Verwirklichung der politischen Vision einer jüdischen Nation zu betrachten.
Selbstbestimmter jüdischer Staat
Der israelische Professor für Politikwissenschaften, Shlomo Avineri, beispielsweise bezeichnete Netanjahus Aufruf gegenüber der New York Times als „intellektuellen und moralischen Fehler“ und warf ihm vor, aus Wahlkampfgründen „Populismus“ zu betreiben. „Die Daseinsberechtigung Israels hängt nicht vom Antisemitismus ab“, erklärte Avineri, der kürzlich eine Biographie über den Gründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl, veröffentlicht hat. Israels Existenz gründe sich vielmehr auf dem Recht des jüdischen Volkes, selbstbestimmt im jüdischen Staat zu leben. Während Israel immer für Einwanderung offen sein sollte, steuere Netanjahus Aussage, dass Juden nur in Israel in Sicherheit leben könnten, den Judenstaat auf Kollisionskurs mit den Regierenden europäischer Länder und den Leitern der jüdischen Gemeinschaften in der Diaspora.
Zufluchtsort für Juden
Doch andere israelische Experten sehen in Netanjahus Aufruf einen ganz natürlichen Ausdruck des ethischen Bewusstseins Israels. „Die Daseinsberechtigung Israels besteht darin, einen Ort zu schaffen, an dem Juden eine bessere jüdische Lebensqualität genießen können“, erklärte Avinoam Bar-Yosef, Präsident des Jewish People Policy Institute, einer Forschungseinrichtung in Jerusalem. „Nach meiner Auffassung ermutigt Netanjahu nur diejenigen, die auf jeden Fall beabsichtigen, ihre Herkunftsländer zu verlassen, nach Israel zu ziehen und nicht in andere Länder. Selbst wenn das Kontroversen auslöst, es ist das, was ein Premierminister Israels tun muss.“ Yigal Palmor, Sprecher der Jewish Agency for Israel, die für die jüdische Einwanderung nach Israel zuständig ist, stimmte dem zu. „Nach allgemeiner Auffassung gehört es zum Job des Premierministers, Juden daran zu erinnern, dass Israel ihnen Zuflucht bietet, wenn sie angegriffen werden.“ Alles weitere sei nur eine Frage des richtigen Tons, erklärte der ehemalige Diplomat.
Familiengeschichte
Netanjahu selbst verband seinen Aufruf zum Exodus aus Europa mit seiner persönlichen Familiengeschichte. Sein Großvater sei von einem antisemitischen Mob auf einem Bahnhof im Herzen Europas Ende des 19. Jahrhunderts bewusstlos geschlagen worden, berichtete er in einem Wahlkampfvideo. „Er schwor sich damals, dass er seine Familie ins Land Israel bringen würde, sollte er die Nacht überleben, um dort beim Aufbau einer Zukunft für das jüdische Volk in seinem eigenen Land mitzuhelfen“, sagte Netanjahu. „Ich stehe heute hier als Premierminister Israels, weil mein Großvater sein Versprechen gehalten hat.“