
Im April jährt sich der Aufstand im Warschauer Ghetto zum 80. Mal. Vier Wochen lang stellten sich die letzten Überlebenden der einst blühenden jüdischen Gemeinde Warschaus ihren deutschen Henkern entgegen. Die meisten Bewohner des Ghettos waren zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr am Leben. Unter ihnen waren auch tausende Christen jüdischer Herkunft. (Foto: Unsplash, Die Allerheiligenkirche in Warschau, in der Christen im Warschauer Ghetto Gottesdienste feierten, Symbolbild)
Das Warschauer Ghetto
Mit dem deutschen Überfall auf Polen 1939 begann der Völkermord an den 3,3 Millionen polnischen Juden. Im Oktober 1940 zwangen die deutschen Besatzer die jüdischen Einwohner Warschaus (30% der damaligen Stadtbevölkerung) zum Umzug in einen „jüdischen Wohnbezirk“, umgeben von einer drei Meter hohen Mauer und hermetisch abgeriegelt. Bis zu einer halben Million Menschen waren auf einer Fläche von rund 3,1 Quadratkilometern eingepfercht. Innerhalb der nächsten zwei Jahre starben mehr als 80.000 infolge von Hunger, Seuchen, Zwangsarbeit oder Gewalthandlungen. Rund 265.000 wurden im Sommer 1942 mit der sog. „Großen Aktion“ in den sicheren Tod in den Gaskammern von Treblinka geschickt.
Der Ghettoaufstand
Am 19. April 1943, es war der Vorabend des Passah-Fests, an dem das jüdische Volk des Auszugs aus Ägypten gedenkt, rückten Einheiten von SS und Polizei zur endgültigen „Räumung“ des Ghettos vor. Knapp 1.000 jüdische Widerstandskämpfer, angeführt von Mordechai Anielewicz, Marek Edelman und anderen, stellten sich ihnen entgegen. Ohne Ausbildung und spärlich mit Molotowcocktails, Handgranaten und wenigen Dutzend Schusswaffen ausgestattet, führten diese verzweifelten Männer und Frauen einen aussichtslosen Kampf gegen einen erbarmungslosen Gegner. Nach 27 Tagen wurde der Aufstand niedergeschlagen. Die Sprengung der Großen Synagoge von Warschau verdeutlichte: die größte jüdische Gemeinde Europas war nicht mehr. (Foto: Pixabay, Denkmal der Helden des Ghettos, Symbolbild)
Als sich ihre Niederlage abzeichnete, begingen viele Anführer des Aufstands in ihrem unterirdischen Bunker in der Miła-Straße 18 kollektiven Selbstmord, wie ihre Glaubensbrüder es 2.000 Jahre vor ihnen auf Masada getan hatten. Bei der Sprengung des Ghettos, Straßenzug um Straßenzug, entdeckten die Nazis hunderte dieser Bunker. „Sie konnten diejenigen nicht retten, die darin Zuflucht gesucht hatten, aber sie bleiben das ewige Symbol des Lebenswillens der Juden Warschaus“, schreibt Dr. Mitch Glaser, Präsident von Chosen People Ministries. Rund 13.000 Juden starben während des Aufstands. Die Überlebenden wurden in die Vernichtungslager Majdanek und Treblinka deportiert.
Christen im Warschauer Ghetto
Unter den im Ghetto Eingesperrten befanden sich auch tausende Christen jüdischer Abstammung sowie messianische Juden*. Manche von ihnen waren bereits in der zweiten oder dritten Generation Christen und hatten keinerlei Verbindung mehr zum Judentum. Andere hatten in den Vorkriegsjahren zum persönlichen Glauben an Jesus gefunden oder konvertierten innerhalb der Ghettomauern.
Peter F. Dembowski, ehemaliger polnischer Untergrundkämpfer und emeritierter Professor der Universität Chicago, berichtet in seinem Buch Christians in the Warsaw Ghetto von zwei katholischen Kirchengemeinden innerhalb der Ghettomauern (Allerheiligenkirche und Mariä-Geburt-Kirche). Priester betraten Tag für Tag das Ghetto oder wohnten dort, um die seelsorgerliche Betreuung der Gläubigen wahrzunehmen und die physische Not in einer irgend möglichen Weise zu lindern. Am letzten Sonntag vor Beginn der „Großen Aktion“ sei eine „riesige Menschenmenge, wie nie zuvor“, zur Messe erschienen, zitiert Dembowski einen Priester. Katholische Quellen aus der Nachkriegszeit sprechen von rund 5.000 „Katholiken jüdischer Herkunft“ im Ghetto.
Das Untergrundarchiv Oneg Schabbat des Historikers Emanuel Ringelblum sowie das Tagebuch von Adam Czerniaków, Vorsitzender des Judenrats, die beide den Alltag im Ghetto dokumentierten, berichten ebenfalls von Christen, sogar von Taufen, im Warschauer Ghetto.
Konversionen vor dem Holocaust
In den Jahrzehnten nach der Aufklärung waren zehntausende Juden zum Christentum konvertiert. Oft war dies Teil von Assimilationsbemühungen und einer Identifizierung mit dem vorherrschenden Glauben im jeweiligen Nationalstaat, in dem sie lebten. Ein weiterer Beweggrund war der erst durch eine Konversion ermöglichte gesellschaftliche Aufstieg. Todd M. Endelman, Professor für Neuzeitliche Jüdische Geschichte an der Universität Michigan,spricht von rund 1.800 Konversionen in Warschau in den Jahren 1800–1903. Mehr als 61% traten demnach zur reformierten oder lutherischen Kirche über, die unter den säkularen Juden als „moderner“ und „aufgeschlossener“ galten. Die Zahl der Christen, die sich Jahrzehnte später im Warschauer Ghetto wiederfanden, könnte also höher gewesen sein, als den katholischen Kirchen bekannt war.
Judenmissionen in Europa
Warschau war auch ein wichtiges Zentrum zahlreicher protestantischer Judenmissionen, die im 19. Jahrhundert in Europa entstanden, initiiert v.a. von britischen und US-amerikanischen Missionsgesellschaften. In Deutschland erlangte die von der Irish Presbyterian Church (Belfast) 1847 ins Leben gerufene Jerusalem-Gemeinde in Hamburg große Bekanntheit. Um die Jahrhundertwende wuchs sie unter der Leitung von Dr. Arnold Frank zu einem Zentrum der Missionsarbeit unter Juden; ihre Missionsschriften erreichten eine Auflage von bis zu 40.000.
Fokus der meisten Missionsgesellschaften war jedoch Osteuropa, wo vor der Schoa der größte Teil der jüdischen Weltbevölkerung lebte. Ein bis heute erhaltenes Zeugnis dieser Ereignisse sind die Lebensgeschichten und Schriften namhafter Rabbiner, die zum Glauben an Jeschua fanden, wie Isaac Lichtenstein (Ungarn), Paulus Cassel (Preußen) oder Joseph Rabinowitz (Bessarabien), der als Vater der modernen messianisch-jüdischen Bewegung gilt.
In Warschau soll allein die London Mission to the Jews laut Endelman 1821–1907 949 Juden anglikanisch getauft haben. Glaser vermutet, dass am Vorabend des Zweiten Weltkriegs „mehr als ein Dutzend messianische Gemeinden und Missionen“ in Warschau existierten. „Es muss [daher] eine starke Präsenz messianischer Juden im Warschauer Ghetto gegeben haben.“ Missionsstationen gab es auch in anderen polnischen Städten wie Lemberg (heute Ukraine), Lublin, Białystok, Łódź und Krakau.
Messianische Juden im Holocaust
Bereits 1899 schätzte das Institutum Judaicumin Berlindie Zahl der Christen jüdischer Herkunft weltweit auf mehr als 200.000. Sie waren orthodoxer, evangelischer und katholischer Konfession. Glaser geht von bis zu 300.000 messianischen Juden am Vorabend der Schoa aus, die, entsprechend der demographischen Verteilung der jüdischen Weltbevölkerung, mehrheitlich in Europa gelebt hätten. Der britische Bibellehrer und messianische Jude Hugh J. Schonfield berichtete 1936 von der Existenz nationaler messianisch-jüdischer Allianzen in achtzehn Ländern, v.a. in Zentral- und Osteuropa: hier taten sich hebräische Christen zusammen, die sich nicht als Konvertiten verstanden, sondern mit ihrem Glauben an den Messias Jeschua weiter an ihrer jüdischen Identität festhielten.
Wie viele Christen jüdischer Herkunft und messianische Juden im Holocaust ermordet wurden, ist nicht bekannt. Ob sie nach der Konversion an ihrer jüdischen Tradition festhielten oder keinen Bezug mehr zu ihren jüdischen Wurzeln hatten, sie erlitten dasselbe Schicksal wie das gesamte jüdische Volk während der Schoa. Ganze Familien wurden ausgelöscht und es gab niemanden mehr, der ihre Geschichte erzählen konnte.
*Der Begriff „messianische Juden“ war damals noch nicht geläufig. Eine exakte Unterscheidung zwischen Christen jüdischer Herkunft und messianischen Juden im heutigen Sinne ist in diesem Zusammenhang nicht möglich.
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