Eine Gruppe von 15 jungen Deutschen stellt sich auf dem Marktplatz der polnischen Stadt Gliwice (Gleiwitz) auf. Ihnen allen ist gemeinsam, dass ihre Urgroßväter am Holocaust in Polen beteiligt waren. Drei der unter 25jährigen gehen ans Mikrofon, bekennen die Schuld ihrer Vorfahren, bitten stellvertretend um Vergebung und sprechen ein Gebet für die Heilung der Wunden der Opfer. Als sie den Bühnenbereich wieder verlassen, sprintet plötzlich aus der ersten Zuschauerreihe ein älterer Herr hinter ihnen her. Er holt sie ein und nimmt sie in die Arme. Es ist Yechiel Aleksander aus Israel, 88 Jahre alt und einer der letzten Überlebenden der Todesmärsche. „Ihr Jungen, passt gut auf, gedenkt an vorgestern, damit Ihr morgen leben könnt!“ hat er am Vorabend im katholischen Bildungszentrum von Gliwice gesagt. Dass sie seinen Rat so unbedingt befolgen, berührt ihn offensichtlich.
Letztes Kapitel des Holocaust
Yechiel Aleksander, die jungen Leute und zirka 500 weitere Personen – Polen, Israelis und Deutsche, Juden und Christen - sind am 17. und 18. Januar auf Einladung der TOS-Gemeinde aus Tübingen nach Gliwice und Auschwitz gekommen. Mit einem „Marsch des Lebens“ entlang der Strecke zwischen Auschwitz und Gliwice gedenken wir gemeinsam des letzten Kapitels des Holocaust, der Todesmärsche. Vor genau 70 Jahren trieb die SS in Deutschland und Osteuropa die verbliebenen KZ-Häftlinge zu Hunderttausenden zu Fuß gen Westen, um eine Befreiung durch die näher rückenden Alliierten unbedingt zu verhindern. Wer sich seinen Schuhe zubinden wollte oder vor Entkräftung, Hunger und Kälte nicht mehr weiter konnte, wurde gnadenlos erschossen. Die Wege waren von Blut und Leichen gesäumt. „Wir wollen Holocaust-Überlebende ehren, der Opfer gedenken und gemeinsam ein Zeichen setzen. Aus Wegen des Todes sollen Wege des Lebens werden“, sagt Jobst Bittner, Pastor der TOS-Gemeinde, der die Gedenkveranstaltung gemeinsam mit polnischen Christen organisiert hat.
Traumatische Erfahrungen
Wie traumatisch diese Todesmärsche tatsächlich für die Beteiligten waren, zeigt sich im persönlichen Gespräch mit Yechiel Aleksander. „Ich war schon sehr oft wieder in Auschwitz und habe dort meine Geschichte erzählt. Doch nach Gliwice bin ich jetzt zum ersten Mal seit 70 Jahren wieder gekommen.“ Er war damals 18 Jahre alt, bei seiner Befreiung in Gunskirchen wog er noch 27 kg. Ein guter Freund von ihm, ein Franzose, sei auf dem dreitägigen Gewaltmarsch von Auschwitz nach Gliwice gestorben. Auf die Frage, wie er sich denn hier in Gliwice jetzt fühle, 70 Jahr später, sagt er nur: „Gar nicht gut“. Er macht eine wegwischende Handbewegung, auf einmal fehlen ihm die Worte. Prof. Gideon Greif, Holocaustforscher aus Tel-Aviv, gibt uns Teilnehmern am Marsch des Lebens eine sehr fundierte historische Einführung, bevor wir dann eine Teilstrecke der Todesroute gemeinsam ablaufen. Es geht vom Marktplatz in Gliwice an die Stadtgrenze zum Holocaustmahnmal, eine Strecke von zirka vier Kilometern. „Der Marsch war sehr eindrücklich“ sagt Ulrike Gittinger aus Heimerdingen bei Stuttgart. „Wir waren heute warm angezogen, hatten gute Schuhe, die Menschen damals waren entkräftet, hatten nichts Warmes anzuziehen. Als sich schräg vor mir eine junge Frau bückte, um ihren Schuh zuzubinden, dachte ich daran, dass sie damals schon deswegen erschossen worden wäre.“
Versöhnung auf der Rampe
Nach einer kurzen Gedenkfeier am Holocaustmahnmal fahren wir mit Autos an den Anfangspunkt der historischen Todesmärsche, nach Auschwitz-Birkenau. Gemeinsam laufen wir zur Rampe, an der während des Krieges die Züge ankamen. Genau hier wurde in einem kurzen Moment entschieden, wer Zwangsarbeit leisten und wer sofort in die Gaskammer gehen musste. „ Die Vorstellung, wie auf diesem Weg vor 70 Jahren die armen, getriebenen Gefangenen gelaufen und die meisten davon grausig zu Tode gekommen sind, macht mich sehr traurig“, sagt Inès Garcia-Akritidis aus Ditzingen. Gesammelt und sehr konzentriert berichtet Yechiel von den eineinhalb Jahren, die er als Zwangsarbeiter in Auschwitz verbringen musste. Er hat hier seine gesamte Familie verloren. Drei Mitglieder der Gemeindeleitung der TOS aus Tübingen berichten dann von den Verbrechen ihrer Großväter in Auschwitz und bitten stellvertretend um Vergebung. Wieder kommt es zu berührenden Szenen der Versöhnung mit Nachfahren der Opfer. Schließlich feiern deutsche und polnische Pastoren gemeinsam das Abendmahl auf der Rampe und salben den Boden.
Freude und Hoffnung
Beim anschließenden Abschlussgottesdienst in einem Hotel in Oswiecim, einem „Fest des Lebens“, bricht sich die Freude über die erlebte Versöhnung in polnischem und hebräischem Lobpreis und israelischen Tänzen Bahn. „Ich komme nicht gerne hierher nach Auschwitz“, erklärt der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Kattowitz, Włodzimierz Kac. „Aber dank Euch habe ich hier zum ersten Mal ein Gefühl der Freude erlebt.“ Er blicke nun wirklich mit Hoffnung in die Zukunft. Bei einem israelischen Tanz springt Yechiel erneut von seinem Sitz in der ersten Reihe auf und ordnet sich fröhlich in unseren Reigen ein. „Lama lo?“ - „Warum nicht?“ lacht er uns zu.
Eine Woche nach dem „Marsch des Lebens“ ist er wieder in Auschwitz-Birkenau, bei der offiziellen Gedenkfeier zur Befreiung durch die Rote Armee vor 70 Jahren – gemeinsam mit 300 Leidensgenossen. Vor zehn Jahren, am 60. Jahrestag waren es noch 1500 Überlebende. Yechiel, einer der letzten Zeitzeugen, wird des Erinnerns nicht müde und geht gleichzeitig in Liebe und Versöhnungsbereitschaft auf die Nachkommen seiner Peiniger zu. Er stellt sich seinem Schmerz und Trauma und verbreitet gleichzeitig Hoffnung und Lebensfreude – was tun wir?